Servicenavigation

Ein Wandergeselle stellt sich vor

An der Baustelle Gedächtniskirche waren während der Sanierungsarbeiten immer wieder Gesellen des Steinmetzhandwerks auf Wanderschaft beschäftigt. Exemplarisch stellt sich hier André Kaiser, der vom 8. Mai 2006 bis 15. September 2006 mit Stenz und „Charly“ auf der Baustelle tätig war, vor:

Kaiser ist 28 Jahre alt und stammt aus Burg-Stargard in Mecklenburg-Vorpommern. Einer alten Tradition gehorchend, befindet er sich Wandergeselle seit mehr als zwei Jahren auf der Walz. Früher musste ein Handwerker dieser Zeit als Wandergeselle als Teil seiner Ausbildung durchlaufen, bevor er sich zum Meister weiterbilden konnte.

Wie seit eh und je, beträgt die traditionelle Zeit auf der Straße mindestens drei Jahre und ein Tag. Eine längere Wanderschaft ist möglich.

In folgenden Ländern – neben Deutschland – hielt Kaiser sich bereits auf: Frankreich, Indien, Nepal, Österreich, Schottland, Schweiz. Die Verweildauer an den verschiedenen Orten betrug zwischen zwei Tagen bis zu einigen Wochen bzw. Monaten. Eine längere Verweildauer als ein halbes Jahr auf einer Arbeitsstelle ist nicht erlaubt (diese Vorschrift bezieht sich auf Mitglieder im Rolandschacht).

Als Hauptbeweggründe, sich dieser alten Tradition der Wanderschaft zu unterziehen, erklärt Kaiser, dass einerseits die alte Tradition gepflegt wird, andererseits die Weiterbildung und das Kennenlernen von verschiedenen Arbeitsweisen sehr förderlich und letztendlich als Lebenserfahrung zu werten sind. Jede Bleibe des Wandergesellen muss örtlich gesucht werden, häufig unter Mitwirkung des Handwerksmeisters, bei dem der Geselle gerade anheuert. Nicht selten nächtigt man im Sommer im Freien. Die Bezahlung orientiert sich am Tariflohn. Dumpinglöhne dürfen nicht akzeptiert werden, damit der Geselle „on tour“ keinen Arbeitsplatz eines fest angestellten Mitarbeiters gefährdet.

Auf die Frage, welche Baustelle die ansprechendste Steinmetzarbeit für ihn bot, kommt die spontane Antwort „die Sanierung der Gedächtniskirche“. Es sei eher selten, dass man an so einem herausragenden Kirchengebäude Anstellung auf Zeit findet.

Er genießt es, an dieser großen Fülle von herausragenden Zierstücken mitwirken zu können, die da sind: Maßwerke, Fialen, Bekrönungen, Krabben und Kreuzblumen.

Der alten Tradition gehorchend, gehen Gesellen des Zimmerer-, Steinmetz-, Dachdecker-, Maurer-, Schreiner-, Holzbildhauerhandwerks (und weiterer Gewerke) auf die Walz. Diese Tradition lässt sich bis in das 12. Jahrhundert zurück verfolgen. Als Voraussetzung gilt eine abgeschlossene Lehre, die Handwerker müssen unter 30 Jahre alt, ledig und schuldenfrei sein. Dabei dürfen sie nur das Allernötigste mitnehmen, dürfen sich ihrem Heimatort nicht mehr als 60 Kilometer nähern, bei anderen Gesellenvereinigungen oder Freireisenden 50 km. Auf der Wanderschaft, auch „Tippelei“ bezeichnet, führt der Geselle ein Wanderbuch mit, in dem Name, Heimat, Beruf und die bisherigen Walz-Stationen festgehalten sind.

Zu guter Letzt lassen erklärt Kaiser die Arbeitskleidung eines Steinmetzgesellen auf der Wanderschaft:

  1. Schwarzer Hut mit unterschiedlicher Krempe
  2. Staude: weißes Hemd ohne Kragen
  3. Handwerksnadel, wird auf die Ehrbarkeit gesteckt und ist Zeichen des Gewerks
  4. Schlips, die so genannte Ehrbarkeit in der Zunftfarbe (blaue Farbe zeugt von der Zugehörigkeit zu den/dem Rolands-Brüdern/Rolandschacht)
  5. Helle Weste mit 8 Knöpfen = Symbol für 8 Std. Arbeit täglich
  6. Cord-Jacket mit 6 Knöpfen = Symbol für 6Tage Arbeit wöchentlich
  7. Charlottenburger, kurz „Charly“ genannt, ein Tuch 80 x 80 cm zum Transport der Habseligkeiten
  8. Helle Cord-Hose mit unterschiedlichem Schlag
  9. Stenz, in der Natur gewachsener Wanderstab, der mit einer eingewachsenen Schlingpflanze versehen ist, die immer zum Licht strebt
  10. Schwarze Schuhe

Im linken Ohr trägt der Wandergeselle einen Ohrring. Das Ohrloch wird an der Baustelle mit einem Nagel und dem Hammer eingeschlagen. Früher handelte es sich bei dem Ohrring um einen sehr wertvollen Schmuck, der im Notfall als Notgroschen zu Geld umgesetzt wurde. Ist ein Wandergeselle auf der Straße gestorben, wurde vom Erlös des Ohrringverkaufs seine Beerdigung bezahlt.

Ließ sich ein Handwerker auf der Wanderschaft etwas Verwerfliches zuschulden kommen, riss ihm der Meister den Ring vom Ohr, was zu einem Schlitz im Ohrläppchen führte. Dies ist der Ursprung des Kosewortes „Schlitzohr“.

Der Rolandschacht wurde am 1. Mai 1891 von sechs Bremer Maurern in Nürnberg gegründet. Als Schutzpatron der Rolandsbrüder fungiert der Bremer Roland. Als Leitspruch hat sich der Rolandschacht „Treue, Freundschaft, Brüderlichkeit“ auf seine Fahne geschrieben. Er stellt die zweitälteste Gesellenvereinigung in Deutschland dar.

Die Gesellenvereinigungen gelten als Vorläufer der Berufsverbände/Gewerkschaften. Für ihre Mitglieder handelten sie bereits Mindestlöhne und geregelte Arbeitszeiten aus.

Der Wandergeselle lässt seinen Krempenhut während des gesamten Tagesablaufes auf dem Haupt. Lediglich beim Essen und beim Kirchenbesuch wird die Kopfbedeckung abgenommen.

StartseiteAdresse | KontaktformularImpressum     ©2015 Ev. Mediendienst, Speyer